Korrektur des Fehlbisses durch Kiefer-OP Quelle: ib-designartwork.de

Offener Biss behandeln – Moderne Therapieansätze für alle Altersgruppen

13. September 2025

Warum der offene Biss mehr ist als ein Schönheitsproblem

Ein offener Biss liegt vor, wenn sich Ober- und Unterkieferzähne beim Zubeißen nicht berühren – meist im Frontzahnbereich (anterior), seltener seitlich (posterior). Was wie ein „Lücke-beim-Zubeißen“-Phänomen aussieht, ist funktionell hochrelevant: Betroffene kauen ineffizient, lispeln, atmen häufiger durch den Mund und entwickeln nicht selten Fehlhaltungen der Zunge und der orofazialen Muskulatur. Unbehandelt kann ein offener Biss zu Zahnabrieb an Seitenzähnen (Überlastung), Zahnfleischproblemen, CMD-Beschwerden und Rückfällen nach bereits erfolgter Therapie führen. Die gute Nachricht: Mit alters- und ursachengerechter Planung lassen sich auch komplexe Fälle sanft, vorhersehbar und langfristig stabil korrigieren.

 

1) Definition & Klassifikation – was genau ist „offen“?

Anteriorer offener Biss: Kein Kontakt der Schneidezähne (1er/2er), während Seitenzähne okkludieren.

Posteriorer offener Biss: Fehlende Kontakte im Seitenzahnbereich (selten, häufig iatrogen/mechanikbedingt).

Dental vs. skelettal:

Dental: Zahnstellungen/Neigungen verursachen den Spalt.

Skelettal: Vertikale Wachstums-/Basisprobleme (z. B. hoher Unterkieferwinkel, „langer Gesichtstyp“) dominieren.

Funktionell: Zungenvorstoß (Zungenstoßschlucken), Mundatmung, Habits (Daumen, Schnuller) erzeugen/unterhalten die Öffnung.

Merke: Die Ursache (Gewohnheit/Funktion vs. Skelett) bestimmt die Therapie – nicht die Lücke an sich.

 

2) Entstehung: Ursachen & Risikofaktoren

Habits: Daumen-/Schnullergebrauch über das 3.–4. Lebensjahr hinaus, Lippenbeißen, Zungenpressen.

Zungenlage/-funktion: Zunge liegt „unten“ (Mundboden) statt am Gaumen; beim Schlucken wird sie nach vorne zwischen die Frontzähne gedrückt.

Mundatmung / HNO-Probleme: vergrößerte Adenoide, Allergien, chronisch verlegte Nase → tiefe Zungenlage, offener Mund, vertikales Wachstum.

Skelettale Muster: vergrößerter SN–MP/FMA-Winkel, posterior übereruptierte Molaren, „Clockwise“-Drehung des Unterkiefers.

Iatrogene/Mechanische Faktoren: unkontrollierte Extrusion der Frontzähne, unzureichende Vertikalkontrolle, Schienen/Platten mit falscher Bissführung.

Genetik & Weichgewebe: ligamentäre Laxität, muskuläre Dysbalancen, Gesichtstyp (dolichofazial).

Kernaussage: Ohne Myofunktion (Zungenruhe am Gaumen, Nasenatmung) ist jeder rein mechanische Erfolg instabil.

 

3) Folgen eines unbehandelten offenen Bisses

Funktion: ineffizientes Abbeißen, Kauen, erhöhte Belastung der Seitenzähne; schweres Zerkleinern → Verdauungsbeschwerden möglich.

Sprache: Lispeln (S-/Z-Laute), Hypernasalität, undeutliche Artikulation.

Ästhetik & Mimik: Lippeninkompetenz, „lange“ Gesichtserscheinung, offenes Lächelfenster – psychosoziale Auswirkungen.

Zahnmedizinisch: Abrieb an Molaren, bukkale Rezessionen bei kompensatorischer Protrusion, Karies/Parodontitis-Risiko bei Mundatmung.

Kiefergelenk/Muskeln: myofasziale Beschwerden, Kopfschmerzen, CMD-Tendenzen durch unphysiologische Kaumuster.

 

4) Diagnostik: strukturiert, objektiv, interdisziplinär

Anamnese: Habits, Sprach-/Schluckauffälligkeiten, Atmung, Schlaf (Schnarchen/OSAS?), frühere Therapien/Rezidive.

Klinik: negativer Overbite (mm), Front-/Seitenzahnsituation, Mittellinien, Lippenkompetenz, Gingivarand, Lächellinie.

Funktion: beobachtetes Schlucken (Zungenvorschub?), Zungenruheposition, Mundschluss, Nasenatmungstest.

Foto-/Scananalyse: 3D-Scan, Overbite/Overjet, Curve of Spee, Okklusionskontakte (digitaler Okklusogramm-Check).

Kephalometrie: SN–MP/FMA, Y-Axis, U1–SN, L1–MP, Posteriorhöhe (PP–U6, MP–L6), vektorielle Analyse (Posteriorintrusion vs. Anterior-Extrusion).

HNO/Logopädie: Nasenpassage, Adenoide/Allergie-Screening; orofaziales Myofunktionsprofil.

CMD-Screening: Gelenkgeräusche, ROM, Palpationsschmerz, Parafunktionen (Knirschen/Pressen).

Ziel: Dental/funktionell vs. skelettal trennen, Vertikalstrategie festlegen (intrudieren vs. extrudieren), Funktion mitbehandeln.

 

5) Behandlungsstrategien – alters- und ursachengerecht

5.1 Frühe Kindheit (Milch-/frühes Wechselgebiss)

Priorität: Ursachen abstellen und Wachstum lenken.

Habit-Stop: Elterncoaching, belohnungsbasierte Abgewöhnung (Daumen/Schnuller bis spätestens 3.–4. LJ beenden).

Zungen-/Lippenfunktion: myofunktionelle Frühtherapie; einfache Übungen (Zungen-„Spot“ am Gaumen, Lippenkräftigung).

Gaumenbügel/Zungenabweiser: Palatal Crib oder Bluegrass Appliance (Drehperle) – verhindert Zungenvorschub, bietet sensorischen Ersatz.

HNO-Abklärung: Nasenatmung herstellen (Behandlung Adenoide/Allergie) → Voraussetzung für stabile Zungenruhelage.

Leichte dentale Korrekturen: Federn/Z-Springs für einen einzelnen retroinklinierten Schneidezahn.

Prognose: Sehr gut. Wird die Funktion normalisiert, schließen sich viele anteriore offene Bisse spontan oder lassen sich minimalinvasiv korrigieren.

5.2 Spätes Wechselgebiss & Pubertät

Ziel: Vertikalkontrolle + Myofunktion kombinieren.

Feste Spange mit Vertikalsteuerung:

Bite-Blocks (Front/Posterior) zur Lenkung,

Box-Elastics (anterior/posterior) zur gezielten Annäherung,

Torque-Korrekturen (Pro/Retro) der Front,

Transversale Harmonisierung (Engstand/Schmalform adressieren).

TADs/Minischrauben (palatinal/bukkal): Posteriorintrusion der Molaren → Gegenuhr-Rotation des Unterkiefers, Overbite schließt stabiler als per Front-Extrusion.

Aligner-Therapie (Teen): Okklusale Abdeckung → natürliche Posteriorintrusion, gezielte Box-Elastics (Cut-outs/Buttons) und Attachments (anteriorer Extrusions-/Posteriorintrusionsmix).

Funktion: Logopädie parallel (Zungenruhe am Gaumen, korrekter Schluckakt), HNO-Management fortsetzen.

Prognose: Sehr gut bis gut. Posteriorintrusion (TADs/Aligner) ist stabiler als reine Anterior-Extrusion.

5.3 Erwachsene

Ziel: Je nach Skelettmuster nicht-chirurgisch oder chirurgisch – immer kombiniert mit Funktionsarbeit.

Nicht-chirurgisch:

TAD-gestützte Posteriorintrusion (palatinal/bukkal) – sehr effektiv bei leichten bis moderaten skelettalen Mustern.

Aligner mit Intrusions-/Extrusionsstaging + Box-Elastics; häufig erstaunlich gute Vertikalsteuerung dank okklusaler Abdeckung.

Extraktionskonzepte selektiv (z. B. 4er bei ausgeprägter Protrusion) – Vorsicht: Extrusion als Kompensation ist rezidivanfällig ohne Funktionskorrektur.

Myofunktionelle Therapie und Schlaf-/HNO-Management sind Pflicht.

Chirurgisch (bei ausgeprägt skelettalen Fällen):

Le-Fort-I-Impaktion posterior (Maxilla), oft kombiniert mit BSSO (Unterkiefer) → Gegenuhr-Rotation des Unterkiefers, Lippenkompetenz verbessert, Overbite hergestellt.

Optional Genioplastik (Kinnprojektion/Weichteilprofil).

Stabilität chirurgischer Vertikalkorrekturen ist hoch, wenn Zungenfunktion/Nasenatmung mitkorrigiert werden.

Prognose: Gut bis sehr gut – bei konsequenter Ursachenkontrolle (Zunge, Atmung, Habits).

 

6) Mechanik verstehen: Posteriorintrusion vs. Anterior-Extrusion

Posteriorintrusion (Molaren) führt zu mandibulärer Autorotation nach vorn/oben → Overbite schließt funktionell stabil.

Anterior-Extrusion (Frontzähne) kann kosmetisch kurzfristig wirken, ist jedoch rezidivgefährdet, wenn Zungenvorstoß bleibt.

Aligner begünstigen Posteriorintrusion durch okklusale Abdeckung; Brackets + TADs liefern präzise, segmentale Intrusionsvektoren.

 

7) Aligner bei offenem Biss – Chancen & Grenzen

Vorteile:

Gute Vertikalkontrolle (Posteriorintrusion), planbare Extrusion einzelner Frontzähne, unsichtbar, hygienisch.

Elastics (anterior/posterior Box) ergänzen Vektoren, Attachments sichern Rotations-/Extrusionskontrolle.

Grenzen:

Sehr skelettale Vertikalprobleme → oft TADs oder Chirurgie überlegen.

Compliance (22 h/Tag) entscheidend.

Planungstipps: Erst transversal harmonisieren, dann vertikal/sagittal; Zungentraining ab Tag 1.

 

8) Myofunktionelle Therapie: der Stabilitäts-Booster

Zungenruhelage: Spitze an den „Spot“ (Papilla incisiva), breite Zunge am Gaumen.

Nasenatmung: Lippen zu, Zunge oben; HNO-Therapie sichert die Durchgängigkeit.

Schluckakt: Zähne in leichter Interkuspidation, kein Zungendurchstoß nach vorne.

Übungsprogramm (2×/Tag 5–7 min):

Spot-Halten 10×10 s,

Saugübung (Zunge am Gaumen „ansaugen“, 5×10 s),

Lippenpressen mit Lippenband 10×5 s,

Zischlaute gezielt (S/Z), ggf. mit Logopädie.

Ohne myofunktionelle Reprogrammierung ist die Rezidivgefahr signifikant erhöht.

 

9) Retention: Ergebnisse sichern – lieber doppelt als halb

Kombinierte Retention: festsitzender 3–3-Retainer (Front) plus nächtliche Essix-/Wraparound-Schiene (gaumenseitig glatt, optional „Zungenstachel light“ als Erinnerung).

Tragedauer: mindestens 24 Monate, oft langfristig; myofunktionelle Übungen fortführen.

Kontrollen: 6, 12, 24 Monate auf Overbite, Zungenlage, Nasenatmung und Okklusion prüfen.

 

10) Risiken & Nebenwirkungen (ehrlich & realistisch)

Mechanik: Wurzelresorptionen (v. a. bei Front-Extrusion), TAD-Lockerung (1–2 %), Weichgewebsirritationen.

Funktion: Rezidiv bei persistierendem Zungenstoß/Mundatmung.

Parodont: Rezessionen bei unkontrollierter Kipp-Expansion oder Front-Extrusion auf dünnem Knochen.

Chirurgie: übliches OP-Risiko; Stabilität bei korrekter Indikation sehr gut.

Minimieren durch: saubere Planung (CBCT bei Zweifel), Posteriorintrusion bevorzugen, Funktionstherapie verbindlich integrieren, Retention ernst nehmen.

 

11) Alltag & Praxis: konkrete Tipps für Patient:innen

Ernährung am Start: weiche Kost 3–7 Tage, später normalisieren.

Hygiene: Interdentalbürsten, Supra-/Subgingivalpflege bei TADs, Spüllösungen.

Sprechen: Lispeln gibt sich meist nach Tagen/Wochen – Logopädie unterstützt.

Job/Schule/Sport: in der Regel ohne Einschränkung; Mundschutz bei Kontaktsport.

Reisen: Aligner/TAD-Bürstchen/Retainer-Box dabeihaben, Gummizüge nach Plan.

 

12) Zeit & Kosten – grobe Orientierung

Frühbehandlung: 6–12 Monate (Habit-Stop, Crib, leichte Korrektur).

Jugendliche (nicht-chirurgisch): 18–30 Monate (Brackets/Aligner, TADs, Logopädie).

Erwachsene (nicht-chirurgisch): 12–24+ Monate je nach Ausmaß/Compliance.

Chirurgisch kombiniert: aktive Vor-/Nachbehandlung + OP → ca. 18–30 Monate gesamt.

Kosten: abhängig von Aufwand/Technik (TADs/Aligner/OP); gesetzliche Kassen tragen i. d. R. medizinisch notwendige Leistungen bei Jugendlichen mit ausreichender Befundschwere, Erwachsene überwiegend privat (Ausnahmen bei OP-Indikation).

 

13) FAQ – die 12 häufigsten Fragen

1) Geht ein offener Biss bei Kindern von allein weg?
Nur, wenn Habits konsequent beendet und Funktion normalisiert wird – Kontrolle empfohlen.

2) Kann Aligner-Therapie meinen offenen Biss schließen?
Ja, besonders bei dental/funktionellen Fällen – oft in Kombination mit Elastics und Attachments.

3) Sind TADs schmerzhaft?
Meist kaum; Lokalanästhesie, kurzer Eingriff, leichte Druckgefühle anfangs möglich.

4) Was ist stabiler – Front-Extrusion oder Posteriorintrusion?
In der Regel Posteriorintrusion (funktionell getragen) ist stabiler.

5) Wie verhindere ich ein Rezidiv?
Myofunktion, Nasenatmung, Retention (Draht + Schiene), Kontrollen – konsequent umsetzen.

6) Brauche ich nach OP weiterhin Retainer?
Ja – chirurgische Stabilität ist hoch, doch Retention & Funktionstraining bleiben wichtig.

7) Hilft Logopädie wirklich?
Ja – ohne Zungenumtrainierung sind Rezidive deutlich häufiger.

8) Offener Biss nur seitlich – selten?
Ja, meist iatrogen/mechanisch; gezielte Elastics/Intrusion und Okklusionsanpassung helfen.

9) Ich atme nachts durch den Mund – relevant?
Sehr. HNO abklären; Nasenatmung ist Grundpfeiler der Stabilität.

10) Wirkt ein Palatal Crib bei Teens?
Kann unterstützen; bestes Fenster ist früh, dennoch als „Reminder“ nützlich.

11) Sind Extraktionen sinnvoll?
Selektiv – nicht die Standardlösung. Mechanik und Parodont genau prüfen.

12) Wie schnell sehe ich Veränderungen?
Bei Elastics/Alignern oft wochenweise sichtbare Fortschritte; Stabilität braucht Monate.

 

14) Checkliste für Eltern & Patient:innen

  • Zungenruhelage prüfen (Zunge oben?)
  • Nasenatmung sicherstellen (HNO-Screening)
  • Habits beenden (Daumen/Schnuller)
  • Mechanik planen: Posteriorintrusion bevorzugen
  • Logopädie/Myofunktion verbindlich einplanen
  • Kombinierte Retention (Draht + Schiene)
  • Nach 6/12/24 Monaten Stabilitäts-Check

 

Fazit

Der offene Biss ist ein multifaktorielles Problem – und genau so sollte die Therapie sein: mechanisch präzise, funktionsorientiert und interdisziplinär. Je früher interveniert wird, desto sanfter und stabiler gelingt die Korrektur. Bei Erwachsenen ermöglichen TAD-gestützte Intrusion und – falls nötig – orthognathische Chirurgie vorhersagbare Ergebnisse. Dauerhafte Stabilität entsteht, wenn Zungenfunktion, Nasenatmung und Retention mit der Zahn- und Kieferkorrektur Hand in Hand gehen.

Nächster Schritt: Für eine persönliche Einschätzung und Therapieplanung in Schloß Holte-Stukenbrock buchen Sie Ihren Termin bequem über den Termin-Button auf unserer Website oder nehmen Sie direkt Kontakt auf auf.