
Überbiss korrigieren – Von leichten bis schweren Fehlstellungen
13. September 2025Warum die Überbisskorrektur mehr ist als Ästhetik
Ein ausgeprägter Überbiss betrifft nicht nur das Lächeln, sondern die gesamte Funktion des Kausystems. Wer nur die Frontzähne betrachtet, übersieht oft Zusammenhänge mit Atmung, Zungenlage, Haltung, Kiefergelenken und Verdauung. Ein sinnvoll geplantes Vorgehen ordnet die Ursachen, legt klare Ziele fest und wählt die sanfteste, stabile Therapie – altersgerecht und abhängig vom Schweregrad. Dieser Leitfaden führt systematisch vom Verständnis über die Diagnostik bis zu modernen Behandlungswegen und zeigt, worauf es in der Retentionsphase ankommt.
Was bedeutet „Überbiss“ – Begriffe, Messung, Schweregrade
Ein Überbiss (Klasse-II-Fehlstellung) beschreibt ein Missverhältnis zwischen Ober- und Unterkiefer bzw. der Verzahnung, bei dem die oberen Frontzähne deutlich vor den unteren stehen. Umgangssprachlich wird häufig der horizontale Abstand der Schneidekanten gemeint.
Dental vs. skelettal
Dentaler Überbiss: Zahnstellungen und Neigungen sind die Haupttreiber, die Kieferbasen sind weitgehend passend.
Skelettaler Überbiss: Kieferbasen sind sagittal disharmonisch (maxilläre Dominanz, mandibuläre Retroposition oder beides). Hier entscheidet das Wachstum bzw. bei Erwachsenen ggf. die Chirurgie über die Strategie.
Messung und Beurteilung
Overjet (horizontaler Abstand der Frontzähne), Overbite (vertikale Überdeckung), Mittellinien, Eck-/Frontzahnführung, Zahnbogenform, Platzverhältnisse.
Kephalometrische Winkel und Distanzen (z. B. SNA, SNB, ANB) zur Differenzierung skelettaler Anteile.
Weichgewebsprofil (Lippenposition, Kinnprojektion), Atemwegsraum, Zungenruhelage.
Schweregrade
Leicht (ästhetisch/funktionell moderat), mittel (klinisch auffällig, oft Kombinationsmechaniken), schwer (skelettal dominiert, häufig mit Wachstumslenkung oder – im Erwachsenenalter – chirurgischer Unterstützung).
Ursachen und Risikofaktoren
- Genetik und Gesichtstyp (maxilläre Vorposition, mandibuläre Rücklage, dolichofaziales Muster).
- Funktionelle Einflüsse: Mundatmung, niedrige Zungenruhelage, Zungenstoßschlucken, Lippeninkompetenz.
- Habits: Daumen/Schnuller über das Kleinkindalter hinaus, Nägelkauen, Stiftebeißen.
- Zahnverlust/Platzmangel, frühzeitige Extraktionen im Milchgebiss, Engstand und transversale Defizite.
- Haltungs- und Ergonomiestress mit myofaszialen Verkettungen bis in Nacken/Schultergürtel.
Folgen eines unbehandelten Überbisses
- Funktion: ineffizientes Abbeißen, Überlastung der Seitenzähne, erhöhte Frakturrate an Schneidekanten.
- Parodontal: Rezessionsrisiko bei protrudierten Fronten, erschwerte Mundschlusskompetenz.
- Kiefergelenk/Muskulatur: myofasziale Schmerzen, Geräusche, eingeschränkte Beweglichkeit, Kopfschmerzen.
- Atmung/Schlaf: eher bei mandibulärer Rücklage – engere oberen Atemwege, Schnarchen/Schlafbezogene Beschwerden möglich.
- Psychosozial: Unsicherheit beim Lächeln, Vermeidungshaltungen in Beruf und Alltag.
Diagnostik: strukturiert und zielleitend
Anamnese und Funktionsscreening
Beschwerdebild, Parafunktionen (Knirschen/Pressen), Schlaf- und Atemfragen, Sprachmuster, Ernährungsgewohnheiten. Kiefergelenksstatus, Bewegungsbahnen, Seitabweichungen.
Klinische Untersuchung
Overjet/Overbite, Führungskonzepte, Mittellinien, Engstände/Lücken, transversale Breite, Zwangsbisslagen. Beurteilung der Lippen- und Zungenfunktion, Mundschluss.
Digitale Modelle und Bildgebung
Intraoralscan für 3D-Modelle, Fotostatus, OPG. Kephalometrie zur skelettalen Einordnung; bei Fragestellung Atemwege oder komplexer Anatomie ggf. DVT.
Interdisziplinäre Abklärung
HNO bei Nasenatmungsproblemen, Logopädie bei Zungenfunktion, gegebenenfalls Physiotherapie bei Haltungsfaktoren oder myofaszialer Mitbeteiligung.
Behandlungsziele: funktionell, ästhetisch, stabil
- Harmonisierung der sagittalen Relation (Zentrik, Führung, Profil).
- Korrekte Frontzahnpositionen in Knochen und Weichgewebe (Parodontalverträglichkeit).
- Normale Nasenatmung, Zungenruhelage am Gaumen, stabiler Mundschluss.
- Rezidivprophylaxe durch passgenaue Retention und Training myofunktioneller Muster.
Therapie nach Altersgruppen
Frühbehandlung (Milch- und frühes Wechselgebiss)
Fokus auf Wachstumslenkung und Funktionsnormalisierung: funktionskieferorthopädische Geräte (z. B. Aktivator, Bionator), frühe transversale Harmonisierung bei Oberkieferschmalformen, Habit-Stop (Daumen/Schnuller), myofunktionelles Training, HNO-Management für freie Nasenatmung. Ziel ist, die sagittale Diskrepanz abzuflachen und die Weichen für ein balanciertes weiteres Wachstum zu stellen.
Jugendliche
Jetzt ist die Korrektur der Klasse-II-Relation besonders effizient. Feste Spangen oder Hybridkonzepte werden mit Klasse-II-Elastics, Distalisationsapparaturen oder funktionsfördernden Scharnieren kombiniert (z. B. Herbst, Forsus, Jasper-Jumper, Carriere-Motion-Konzept). Transversale Feinabstimmung, Dreh- und Kippkontrolle, Torque an den Fronten und vernünftige Bogenabfolge sichern eine physiologische Führung. Myofunktion, Atmung und Haltung bleiben parallele Arbeitspakete.
Erwachsene
Hier ist das Kieferwachstum abgeschlossen. Je nach Schweregrad wird dental kompensiert (Aligner oder Brackets mit Klasse-II-Elastics, Distalisation, gegebenenfalls TAD-gestützt) oder – bei deutlich skelettaler Diskrepanz und profilrelevantem Befund – kombiniert chirurgisch behandelt (z. B. bimaxilläre Umstellungsosteotomien). Auch bei erwachsenen Patientinnen/Patienten ist myofunktionelle Therapie sinnvoll, um Lippen- und Zungenbalance zu erreichen und die Stabilität zu erhöhen.
Mechaniken im Überblick
Klasse-II-Elastics
Elastics verbinden Oberkieferbackenzähne mit Unterkieferfront/Prämolaren, fördern mandibuläre Vorbewegung und kontrollieren die Frontrelation. Sie sind effektiv, aber compliance-abhängig und erfordern ein gutes vertikales Management, um unerwünschte Extrusionen zu vermeiden.
Distalisation im Oberkiefer
Mit Distalisatoren, Minischrauben (TADs) oder Carriere-Motion können Oberkiefermolaren nach hinten geführt werden, um Platz zu schaffen und die sagittale Relation zu harmonisieren. TAD-gestützt lässt sich die Nebenwirkungslast deutlich reduzieren.
Funktionsfördernde Scharniere
Herbst/Forsus arbeiten kontinuierlich und unabhängig von der Mitarbeit. Sie sind vor allem im Jugendalter wirksam, wenn noch Wachstum genutzt wird, können aber auch bei Erwachsenen als dentale Kompensation dienen.
Aligner-spezifische Elemente
Attachments für Rotations-/Torque-Kontrolle, Cut-outs für Elastics, Staging von Bewegungen, okklusale Abdeckung für bessere Vertikalkontrolle. Bei moderaten Klasse-II-Befunden sind Aligner eine planbare und ästhetische Option.
Extraktions- vs. Nicht-Extraktionskonzepte
Extraktionen (z. B. 4er) können in ausgewählten Fällen die Profilbalance, Platzverhältnisse und Retentionsaussichten verbessern. Die Entscheidung folgt funktionellen, parodontalen und ästhetischen Kriterien, nicht nur der Engstandsgröße.
Dauer, Ablauf und Retention
Zeitachsen
Leichte bis mittlere Befunde benötigen meist 12–24 Monate aktive Behandlung, komplexere 24–36 Monate. Frühbehandlungen laufen oft 6–12 Monate und bereiten das Hauptwachstumsfenster vor. Die tatsächliche Dauer hängt stark von Schweregrad, Biologie, Methode und Mitarbeit ab.
Typischer Fahrplan
Diagnostik und Planung, Einsetzen der Apparatur, Aktivphase mit Kontrollen im Abstand von etwa 6–8 Wochen, Feineinstellung mit Fokus auf Führung und Profil, Entfernen der Apparatur und Übergang in die Retention.
Retention
Kombination aus festsitzendem Retainer (3-3) und transparenter Schiene über den Zahnbogen hat sich bewährt. Die Tragezeit ist langfristig orientiert, insbesondere bei vormals protrudierten Fronten und weichteilig herausfordernden Profilen. Myofunktionelle Übungen und Nasenatmung sichern die Stabilität.
Aligner oder feste Spange bei Überbiss?
Aligner überzeugen durch Ästhetik, Hygiene und planbare Staging-Sequenzen. In Kombination mit Klasse-II-Elastics und Attachments sind sie für viele moderate Klasse-II-Fälle geeignet. Feste Spangen punkten, wenn erhebliche Rotationen, komplexe Torque-Anforderungen, starke Distalisationen oder funktionsfördernde Scharniere gefragt sind. Häufig führen Hybridkonzepte zum Ziel, etwa Aligner plus TAD-gestützte Bewegungen oder temporäre Scharnierphase.
Alltag, Hygiene und Ernährung
In der Startphase sind Druckgefühle normal. Weiche Kost, sorgfältige Mundhygiene mit Interdentalbürstchen und Fluoridmanagement beugen Entzündungen und Demineralisation vor. Bei Elastics hilft ein fester Tagesrhythmus. Aligner werden 22 Stunden täglich getragen, nur zum Essen und Zähneputzen entfernt; bei festen Apparaturen werden harte, klebrige Speisen gemieden. Sport ist mit Mundschutz in der Regel problemlos.
Risiken und Nebenwirkungen
Übliche Reaktionen sind Druck- und Berührungsempfindlichkeit, vorübergehende Irritationen der Wangen-/Lippenschleimhaut, zeitweise Lautveränderungen. Biologische Grenzen (Wurzelresorptionen bei hoher Last, parodontale Empfindlichkeit) werden durch sorgfältiges Kraft- und Torque-Management, gute Hygiene und regelmäßige Kontrollen adressiert. Bei Scharniermechaniken kann es anfangs zu Kaubeschwerden kommen; Anpassungen und kleine Ernährungsumstellungen helfen.
Kosten und Erstattung – grobe Orientierung
Bei Kindern und Jugendlichen hängt die Kostenübernahme von der Befundschwere im KIG-System ab; medizinisch notwendige Leistungen werden in definierten Stufen getragen. Ästhetische Upgrades, Aligner oder linguale Techniken sind privat zu vereinbaren. Erwachsene rechnen überwiegend privat ab; bei deutlich skelettalen Befunden mit chirurgischer Indikation sind Einzelfallentscheidungen der Kostenträger möglich. Ein transparenter Heil- und Kostenplan klärt Varianten und Zeitachsen.
Häufige Fragen (FAQ)
Geht ein Überbiss im Wachstum von allein weg?
Selten. Ohne Funktionsnormalisierung (Nasenatmung, Zungenlage) und gezielte Wachstumslenkung bleibt die Tendenz bestehen oder nimmt zu.
Sind Aligner bei Überbiss so wirksam wie feste Spangen?
Bei leichten bis mittleren Fällen ja, insbesondere mit Klasse-II-Elastics und sauberem Staging. Komplexe Muster profitieren oft von festsitzenden oder Hybridmechaniken.
Wie lange muss ich Elastics tragen?
Meist mehrere Monate in der Aktivphase. Konsequenz ist entscheidend; Unterbrechungen verlängern die Dauer.
Brauche ich nach der Behandlung dauerhaft Retainer?
Langfristige Retention ist sinnvoll, da Zähne ein Leben lang geringfügig wandern können. Festsitzende Drähte plus Nacht-Schiene sind ein bewährtes Duo.
Kann man einen Überbiss im Erwachsenenalter ohne OP korrigieren?
Viele dentale/milde skelettale Muster lassen sich ohne OP kompensieren. Bei deutlicher skelettaler Diskrepanz liefert eine kombiniert chirurgische Lösung oft die beste Funktion und Profilharmonie.
Verschlechtert ein Überbiss meine Atemwege?
Bei mandibulärer Rücklage kann der Rachenraum enger sein. Eine Untersuchung bei HNO/Schlafmedizin ist sinnvoll, wenn Schnarchen/Tagesschläfrigkeit besteht.
Zusammenfassung und nächster Schritt
Die Korrektur eines Überbisses gelingt zuverlässig, wenn Ursachen, Schweregrad und individuelle Ziele ehrlich eingeordnet werden. Frühbehandlung lenkt Wachstum, Jugendliche profitieren von effizienten Kombinationsmechaniken, Erwachsene von durchdachten Kompensationen oder – bei deutlicher Skelettharmonie-Störung – von einer chirurgisch unterstützten Lösung. Stabil wird das Ergebnis durch Retention, myofunktionelle Balance und gute Mundhygiene.
Wenn Sie wissen möchten, welche Optionen in Ihrem Fall sinnvoll sind, buchen Sie Ihren Beratungstermin bequem über den Termin-Button auf der Website oder nehmen Sie direkt Kontakt auf: https://drbarloi.de/kontakt/. Standort: Schloß Holte-Stukenbrock.